Gerhard Harvan – Stunde um Stunde ————— Barbara Könches


»Haben Sie schon einmal
bewußt gewartet
und begriffen
daß Warten der Ursprung des Lebens ist,«
schrieb der 1941 in Wien geborene Gerhard Harvan in sein Notizbuch und weiter: 
»Das Warten wurde geboren
bei der ersten Verpflanzung
der Menschen.
Warten auf die Geburt.«


Die Zeit als Spannungsbogen zwischen Geburt und Tod, dieses Thema verfolgte der früh verstorbene Künstler obsessiv in seinem vielseitigen, konsequenten künstlerischen Werk.

In Görlitz groß geworden, verließ er 1960 den Osten Deutschlands, um nach einem längeren Aufenthalt in London, in Düsseldorf zu leben. 

Zunächst jedoch führte ihn seine künstlerische Ausbildung zum Zeichenunterricht und Übungen im Fach des klassischen Aktzeichnens zu Edith Hultzsch. Anschließend studierte er von 1965 bis 1970 an der Kunstakademie Düsseldorf bei den Professoren Joseph Faßbender (1903-1974), Rolf Sackenheim (1921-2006) und schließlich Joseph Beuys (1921-1986). Insbesondere die zwei Ersteren prägten seine Kunst formal, Beuys hingegen ermutigte ihn zu unkonventionellen Aktionen und außergewöhnlichen Assoziationen. 


Wie besessen beschäftigte sich Harvan zunächst mit der Darstellung von mechanischen Bauteilen. Die gezackten Zahnräder, die Spindeln und Schrauben, die Bolzen und Federn greifen ineinander, füllen den Bildraum aus, oder aber sie verfehlen sich, scheinen voneinander weg zu driften. Das Getriebe der Zeit füllt Blatt um Blatt. 

Er kombinierte, collagierte, arrangierte Siebdruck mit Lithographie, Radierung mit Holzdruck. Parallel dazu erschuf er Zeitzonen auf seinen Blättern und fügt die »Zeit-des-Wartens« in die »Harvan-Zeit« ein.

Ähnlich wie in dem sehr erfolgreichen Theaterstück Warten auf Godot von Samuel Beckett verband Gerhard Harvan die Grundfrage nach dem Sein mit dem Phänomen des menschlichen Zeitempfindens. Eine zunächst unpolitisch erscheinende Fragestellung, die dies jedoch im Wesen weder bei Beckett noch bei Harvan war.


Der Künstler selber produzierte unermüdlich. Er erweiterte seine Zeitmaschinen, indem er »Zeitröhren« konstruierte, die aus durchsichtigem Plexiglas gefertigt sind und ein Uhrwerk beinhalten. Wie in einer herkömmlichen Pendeluhr senkt sich ein Gewicht nach unten und zeigt an, dass Zeit vergeht. 

Allmählich wandte er sich von der linearen Zeit ab und interessierte sich für die zyklische Zeit, welche die Abläufe in der Natur widerspiegelt. Ob es die Jahreszeiten sind, die Mondphasen oder die biologischen Kreisläufe -, die zyklischen Zeit endet nicht, sondern sie wiederholt sich. 


Gerhard Harvan inszenierte am 23. Oktober 1969, um 12:30, eine der vielleicht originellsten Performances in Düsseldorf, indem er in einer »Spontanaktion« die »Sichtbarmachung der Intimen Ästhetik, Zyklus der Frau« darstellte und die »Verschönerung des Zyklus durch Underground-Musik« versprach. Fernab jeder feministischen Rhetorik forderte Harvan »Männer liebt den Zyklus! Damen nehmt ihn nicht so ernst.«

Bernd Jansen dokumentierte die Performance vor dem damals frisch errichteten Kunsthallengebäude am Grabbeplatz. Wie der Künstler in einigen Metern Entfernung locker zwischen den paarweise angeordneten Karyatiden steht, ihr Spiel von Stand- und Spielbein aufnimmt, sich gerade eine Zigarette anzündet, das ist vielleicht das prägnanteste Bild für seine Kunst im öffentlichen Raum, die ein buntes Publikum zum Zusehen veranlasste. 


Immer häufiger arbeitete der Künstler mit Film, der es ihm erlaubte, die komplexe Zeit-Thematik adäquat darzustellen. Für die Zykluslandschaft Teil 2, Farbe, dreieinhalb Minuten auf 16 mm Film, beschrieb er den Inhalt: »Eine Zykluslandschaft in eine gemalte Landschaft hineinprojizieren«, allerdings: »Ton muß noch angelegt werden«.

Der Film blieb tonlos, still. Harvan starb am 13. Mai 1971, um die Mittagszeit, genau 30 Tage nach seinem 30. Geburtstag. 

Die Tageszeitung Rheinische Post berichtete, »Stromschlag tötete Gerhard Harvan«. Sein plötzlicher Tod war nicht nur wegen der tragischen Umstände eine Nachricht wert, sondern auch, weil er sich mittlerweile als Künstler einen Namen gemacht hatte.


Bereits als Student war Harvan an verschiedenen wichtigen Ausstellungen beteiligt und seine Werke präsentierte er neben arrivierten Künstler*innen. Heinz Junker nannte ihn einen »Senkrechtstarter« und schrieb in den Düsseldorfer Nachrichten: »Derweil summt und tickt die Harvansche Zeitmaschine im Atelier und sagt dem Künstler an, was er überraschend nicht zu tun brauchte: >Warten< – warten auf den Erfolg.« 


In seinem letzten Bild Zyklus Landschaft ist das Zahnrad verschwunden. Ein tiefer Horizont eröffnet den Blick über eine öde Steppe oder ein absolut stilles Meer hin zu einem aufsteigenden, rot durchfluteten Lichtstrahl. Sanfte Hügel in Form von weiblichen Konturen setzen sich kaum vom tiefen Blau des Himmels ab. Mit diesem Bild hatte Harvan sich auf seine eigene Weise der Pop-Art angenähert und war gerade dabei, ein neues Kapitel seiner Kunst aufzuschlagen.


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